Vorbei ist nicht vorüber – warum wir weiter über G20 streiten sollten
Am Donnerstag vor dem Gipfel hatte sich in der Stadt das totale Genervtsein breitgemacht. Die Straßensperren, die kreisenden Hubschrauber, die massive Polizeipräsenz schufen ein Gefühl des Belagerungszustands. Jede halbwegs kreativ-fröhliche Demo hätte zu diesem Zeitpunkt vermutlich auf 90 % Zuspruch kommen können. Das ikonische Social-Media-Bild dieser Phase war der Demonstrant mit dem „Ich will bloß kurz zu Edeka“-Schild. Wie es am Abend dann genau zur Eskalation bei der „Welcome to Hell“-Demo kam, wird wohl ein Untersuchungsausschuss klären müssen.
Was aber jeder Hamburger sehen konnte: Der rot-grüne Senat hat sich weggeduckt und das komplette G20-Management der Polizeiführung überlassen. Und die ist das von Anfang an extrem robust angegangen, wie der SPIEGEL jetzt anhand von Einsatzbefehlen und Protokollen nachwies. Vom „Schaufenster moderner Polizeiarbeit“ und einer Deeskalationstaktik kann keine Rede sein, selbst beteiligte Polizisten wie Oliver von Dobrowolski kommen zum Schluss: „Hier wurde die ausgestreckte Hand zur Faust geballt“.
Zwischen Irritation und Belustigung
Die „Welcome to Hell“-Demo habe ich nicht persönlich miterlebt, aber ich bin am Freitag mehrere Stunden durch die Stadt gelaufen. Ich erinnere mich an dieses Gefühl zwischen Irritation und Belustigung – Menschen, die an roten Fußgängerampeln stehen bleiben, sich umschauen: ringsum leere Straßen und Barrikaden, weit und breit kein Auto, gelten die Regeln noch? Witze über den „verkehrsfreien Freitag“, Radfahren mitten auf der Reeperbahn, Visionen von einer autofreien Stadt.
Bei der Roten Flora und am Hein-Köllisch-Platz habe ich engagierte Freiwillige getroffen, die Auskunft und Hilfe angeboten haben und inhaltliche Diskussionen führen wollten. Auf den Infowänden und den Flyern zum Gipfel gab es aber eben auch radikale Globalisierungskritik mit holzschnittartigen Argumenten in militanter, aufrührerischer Sprache. Deswegen muss sich die autonome Szene schon den Vorwurf gefallen lassen, durch das offene Sympathisieren und die Argumentationshilfe einen Raum mitkreiert zu haben, in dem sich schwarz vermummte Vollidioten als Globalisierungskritiker inszenieren konnten.
Als ich dann später auf der Demo war, habe ich mitbekommen, wie schnell sich solche Dynamiken entwickeln und wirksam werden können. Es war wie auf einer Bühne angerichtet: unten die Landungsbrücken, ein Demo-Kopf, der versuchte, zum Baumwall durchzustoßen, ringsum jede Menge Sympathisanten und massenweise Polizeikräfte in voller Krieg-der-Sterne-Montur.
Die Frage war nicht, ob das eskaliert, sondern wie genau
Die Polizisten marschierten über die leere Fläche und wurden ausgebuht wie die Bösewichte in einem Kinofilm. Die Wasserwerfer legten los und aus der Menge flogen Flaschen. Wir standen am Hügel unter dem Hotel Hafen Hamburg, auch aus der Gruppe um uns herum wurde geworfen. Die Beamten kamen in Vollmontur den Hügel hochgerannt, sofort war ein Gefühl von Bedrohung und Adrenalin da, wir zogen uns zurück, versteckten uns unter einer Treppe. Von dort aus sahen wir, wie angetrunkene „Demonstranten“ Polizisten enthemmt anbrüllten, die Gesichter verzerrt vor Wut. Und die Polizisten gaben sich alle Mühe, die Wut zu rechtfertigen, zogen Leute raus, fuchtelten mit ihren Knüppeln (direkte Schläge habe ich nicht gesehen) und setzten Pfefferspray ein.
Ich halte uns zugute, dass wir zumindest die Flaschenwerfer angeschrien und die Auseinandersetzung mit den aggressiven Demo-Teilnehmern gesucht haben. Aber trotzdem blieb das Gefühl, Teil eines unwürdigen Spektakels zu werden, dessen Event-Charakter auch dadurch so deutlich hervortrat, dass ja im Kern alle wussten: Wir leben in einem Rechtstaat, richtig schlimm wird das hier nicht. Keine fünf Minuten später lief ich die Treppen runter und holte mir ungestört von der Polizei mein Fahrrad.
Den Abend haben wir mit Abraham und Hagos verbracht, zwei 18-Jährigen, die fast ein Jahr lang aus Eritrea durch Bürgerkriegsländer wie Libyen hierher geflohen sind. Die beiden hatten Angst, weil sie nicht verstanden, was in Hamburg passiert, und sie eben wissen, was es bedeutet, wenn es keinen Schutz von Grundrechten gibt und man der Willkür der Staatsmacht völlig ausgeliefert ist. Beim Tischtennisspielen im absurd friedlichen Park am Weiher kamen mir die Schaukämpfe an den Landungsbrücken noch fragwürdiger vor.
Freitag Nacht – der Kontrollverlust der Polizei
Dann kam die Freitag Nacht mit dem spektakulären Kontrollverlust der Polizei auf dem Schulterblatt. Alvaro Piña Otey, Mitbetreiber des Bistro Carmagnole und der Cantina Popular in der Schanze, hat in der taz sehr treffend beschrieben, wie der schwarze Block ersetzt wurde durch „die ganzen Gaffer, die eh schon zu Tausenden im Viertel waren. Und dann, in diesem Windschatten, kamen die Kids. Dann ging es los mit den Plünderungen, der Randale“. Die surreale Szenerie fand eine Steigerung, als um kurz vor Mitternacht das SEK auflief: „Mit Schnellfeuergewehren bewaffnete Polizisten, die aussehen wie Soldaten aus einem Science-Fiction-Film. Und auf dem Gesicht deines Nachbarn, der gegenüber aus dem Fenster schaut, kreisen drei Laserpunkte.“
Am nächsten Tag gab es wieder ikonische Bilder und Interviews in den sozialen Medien, die in dieser Phase die Dynamik prägten. Da war das gespenstische, fast tonlose Video aus dem Bus auf der Elbchaussee mit der schwarz gekleideten Gruppe von Vermummten, die Autos anzündete; da war der Hipster-Demonstrant, der vor einem Barrikadenfeuer Selfies schoss und sicher in jedem Jahresrückblick 2017 auftauchen wird. Da war der Rote-Flora-Anwalt Andreas Beuth, der auf NDR „gewisse Sympathien für solche Aktionen“ bekundete, aber doch nicht vor der eigenen Haustür, „wo wir wohnen und einkaufen“, sondern bitteschön in Pöseldorf oder Blankenese.
Im medialen Bildersturm – die Stimmung kippt
Nun kippte die Stimmung in Richtung Pro-Polizei und gegen die Randalierer, je nach politischer Präferenz wurde großzügig alles im politischen Spektrum linksstehende zusammengefasst. Der mediale Bildersturm war krass. Gerade am Samstag Morgen wurden halbgare und nicht wirklich durchdachte Meinungen hinausgeblasen, neue Fronten gebildet, alte Feindschaften vertieft, Narrative gestrickt. BILD, SPIEGEL, ZEIT, SZ und FAZ und Co. jagten Meldungen im Minutentakt durchs Netz, Twitter und Facebook hyperventilierten und liefen über. Neben den eigentlichen Krawallbrüdern marodierte längst eine Event-Szene durch die Stadt, die Kameradichte auf dem Schulterblatt war am Samstag spektakulär.
Diese Exzesse und Übertreibungen mobilisierten die Hamburger, denen es jetzt reichte. Auf einmal gab es Bilder von Kindern, die den Polizisten Snickers und Süßigkeiten vorbeibrachten, mit Kreidestrichen auf der Straße Tic Tac Toe spielten, und dann ging das große Putzen los: Hundertschaften rückten Samstag und Sonntag aus, um die Stadt wiederherzurichten. Ein Filmstudent machte daraus einen Kurzfilm, mit ordentlich Weichzeichner und „Menschen Leben Tanzen Welt“ Musik unterlegt, die selbst Jan Böhmermann nicht mehr hätte persiflieren können. Das Video wurde in kürzester Zeit 50.000 Mal geteilt und innerhalb von 4 Tagen 3,5 Millionen mal angesehen (!). Die Stadt berauschte sich an sich selbst und produzierte neue Übertreibungen (auf Twitter: „Also, Studenten die an nem schönen Sonntag ne HASPA-Filiale herrichten und putzen, darauf komm ich einfach nicht klar“).
Nach dem Rausch – was bleibt von dieser Woche?
Nach dem Rausch folgt eine kurze Phase der sachorientierten Aufarbeitung, auf SPON und ZEIT gute, klärende Artikel, die bilanzieren, einordnen, Hintergrund liefern (bspw. Vier Lehren aus G20 von Christian Stöcker). Daneben schossen die Ideen komplett ins Kraut und die Diskussion wurde ideologisch, wirr und konfus. Die BILD blies mit Fahndungsfotos zur Menschenjagd, Konservative fühlten sich im Aufwind und stellten Maximalforderungen. Bayrische Politiker entdeckten wundersamerweise ihre Zuständigkeit für die Rote Flora. Die Verehrung der Polizei kippte ins skurrile, so dass die Beamten nun wegen der ganzen Dinnereinladungen, Freikarten und Benefizveranstaltungen wohl ihren Jahresurlaub nehmen müssen.
Was bleibt aber nun von dieser Woche? Die Gipfelbeschlüsse werden es sicherlich nicht sein, die sind inhaltlich mager ausgefallen und medial komplett untergegangen. Die zerstörten Schaufenster und die Autowracks werden in den nächsten Tagen verschwinden. Den direkt Betroffenen, die Gewalterfahrungen gemacht haben, kann man nur wünschen, dass keine tiefen Narben zurückbleiben.
Vielleicht ist der Mehrwert von G20 für Hamburg, dass die Stadt nach einer eher phlegmatischen Phase in Bewegung gekommen ist und wichtige Fragen gestellt werden: Wie holt man Senat und Parteien näher an die Bedürfnisse der Bürger heran? Wie bekommt man eine Neuausrichtung der Polizeiarbeit hin, so dass sie endlich dem entspricht, was diese weltoffene und bunte Stadt braucht? Wie kann berechtigte Kapitalismus- und Globalisierungskritik neu gedacht werden, so dass sie Gesellschaft wirksam verändert? Was sind im Kontext eines Rechtstaats angemessene Formen von Protest? Das sind schwierige, polarisierende Themen. Genau darüber müssen wir jetzt aber offen diskutieren, die unterschiedlichen Ansichten aushalten und konstruktiv miteinander streiten, um einen Schritt voranzukommen.