Das deutsche Krokodil - Lesung und Publikumsdiskussion mit Ijoma Mangold

Integrationsgeschichten sind natürlich gerade en vogue und ich muss zugeben, ich bin eher wegen seiner Feuilleton-Artikel zur Lesung in der Buchhandlung Moritzplatz gegangen, das Buch habe ich erst im Anschluss gelesen. Aber dann wurde daraus ein wundervoller Abend, der fließend zwischen Anekdoten aus dem Leben von Ijoma Mangold und einem Gespräch mit dem Publikum über Wurzeln, Biografien und kulturelle Eigenheiten wechselte. Warum fällt uns das oft so schwer?

Buch und Vortrag beginnen mit der Kindheit in Dassendorf. „Sich von anderen zu unterscheiden ist eine Tugend, die man heute sehr schätzt - aber nicht als Kind in den 1970er Jahren“. Die Mutter ist hier nicht hilfreich, denn sie besteht auf ihre Individualität. Afrika spielt keine große Rolle in dieser Lebensphase, „Afrika ist der Kontinent, für den man Geld spendet“. Nur das ominöse Krokodil auf dem Fensterbrett, sein Vorname und das Haar erinnern ihn daran, dass bei ihm etwas anders ist. „Dieses Haar nicht zu kommentieren übersteigt das menschliche Vermögen“.

Erst als er 22 Jahre alt ist und in München studiert meldet sich der Vater zurück im Leben, dann aber mit Macht. Eine Nigeria-Reise wird arrangiert, Widerstand ist zwecklos. Er lernt Onkels und Tanten, Cousins und Cousinen kennen, die ihn mit viel Herzlichkeit empfangen, umstandslos in den Verbund integrieren und erwarten, dass er seine Rolle einnimmt. Das Huhn tötet, wie es sich für den ältesten Bruder gehört. Als Sohn des Chiefs im Heimatdorf agiert, Trauzeuge von geplanten Hochzeiten wird, selbst endlich eine Partnerin wählt unter den Kandidatinnen, die ihm beiläufig vorgeführt werden.

Sich wirklich mit ihm unterhalten, ihn „richtig kennenlernen“, von seiner Kindheit und Jugend in Deutschland erfahren will allerdings fast niemand, bis auf die jüngere Schwester. Er ahnt: „Unverändert lebt meine nigerianische Familie in der Gattung des Epos, ich in der des psychologischen Romans“ (S. 228).


Diese Erfahrung zwischen Fremdheit und Vertrautheit ermöglicht ihm eine neue Perspektive auf das Land seiner Mutter, in dem er aufgewachsen und in dem er sozialisiert ist, weil Selbstverständlichkeiten plötzlich in Frage gestellt werden und sich als kulturelle Konventionen enttarnen. Nähe stellt man in seiner deutschen Heimat her, indem man bei einigen Flaschen Rotwein tiefgreifende Gespräche führt und Intimitäten austauscht. Der Zentralsatz der Mutter, der Kinder- und Jugendtherapeutin, ist: „man muss doch kommunizieren“. Für seine ältere Schwester hingegen ist selbstverständlich, dass sie ihren Bruder liebt, sich mit ihm versteht, dafür muss sie ihn nicht erst kennen lernen: sie teilen doch den Vater, das Blut, das Verwandtschaftsverhältnis.

„Culture hides much more than it reveals, and strangely enough what it hides, it hides most effectively from its own participants. Years of study have convinced me that the real job is not to understand foreign culture but to understand our own“. (Edward T. Hall)


Dieser Punkt führte zu Diskussionen im Publikum. Ein Gambier verteidigte das Verhalten der Schwester gegen die deutsche Familienskepsis, ein Kreuzberger Grieche mit einem Faible für deutsche Literatur hielt ein flammendes Plädoyer für die Errungenschaften ebendieser Kulturhistorie. Beides wurde kreuz und quer kommentiert und in Zwiegesprächen vertieft. Das war lustig und interessant, für mich zeigte sich hier etwas, was ich in der öffentlichen Debatte sonst sehr vermisse: ein offener, wertschätzender Austausch über kulturelle Unterschiede, ohne dass damit gleich ein Anspruch auf Dominanz verknüpft wird („Leitkultur“).

Ich kann mich beispielsweise mit diesem Bild sehr identifizieren - in der Gattung des psychologischen Romans zu leben. Wahrscheinlich haben wir da ähnliche Sozialisationserfahrungen gemacht. Wenn man das einfach mal stehen und wirken lässt kommen sofort interessante Fragen auf. Über den Stellenwert von Familie und Verwandtschaftsverhältnissen gegenüber selbstgewählten Beziehungen. Über die Nebenwirkungen des tiefschürfende-Gespräche-Rituals zur Beziehungsfestigung in Familie und Freundeskreis. Felix Dachsel hat neulich in der ZEIT ein Loblied auf das Plaudern angestimmt, mit dem ich viel anfangen kann, er verwehrt sich hier gegen die Überfrachtung des „Gesprächs“ mit Heilserwartungen. Die Perspektiverweiterung erinnert daran, dass es nicht um Wahrheiten, sondern um kulturelle Muster geht. Und dass es Alternativen gibt, wie Mangold über Nigeria feststellt: „Das Ideal ist eine hohe Frequenz möglichst kurzer Kommunikationsakte“ (S. 225).

Eine weitere Beobachtung von Ijoma Mangold, die bei mir hängen geblieben ist macht er in Nigeria, als er feststellt, dass die Stadtwohnungen oft eher bescheiden ausfallen. Die prächtigen Häuser stehen in den Heimatdörfern. Er leitet daraus die Frage ab: „Wo sind eigentlich die Bühnen, auf denen man angibt?“



Die Lesung fand am 5.5.2018 in der Buchhandlung Moritzplatz in Berlin statt. Zitate ohne Seitenangabe sind dem Vortrag von Ijoma Mangold entnommen, mit Seitenangabe direkt aus dem Buch.